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Vermerke

Weblog eines Angestellten

Kinder sind ein hervorragendes Forschungsobjekt. Oder besser die Art und Weise, in der wir mit Kindern umgehen.

Kaum kann ein 3 Jähriger aus eine paar Strichen und Kreisen eine halbwegs erkennbare Figur zaubern erklären wir ihn zu einem hochbegabten Künstler. Die Fünfjährige, die eine Melodie gerade halten kann und einen 3 Strophen-Text in kurzer Zeit verinnerlicht ist selbstverständlich eine begnadete Sängerin und wir gehen gleich den nächsten Schritt. Wir konstruieren aus den Talenten unserer Sprösslinge zukünftige Erwerbsmodelle. Wir sehen Ingenieure, Forscher, Bestsellerautoren, Manager. Wir impfen ihnen ein, dass ihre Talente ewig währende Beschäftigungen sind, mit denen sie am Ende ihres Lebens eine Menge Geld verdient haben werden. Und das Beste daran: sie werden damit Spaß, Spaß, Spaß haben.

Wir tun im Grunde nichts anderes, als das was unsere Eltern unter dem Satz „Unseren Kindern soll es mal besser gehen“ mit uns angestellt haben und deren Eltern mit ihnen. Selbstverwirklichung und materieller Wohlstand sind die Zauberwörtchen. Materiell sind wir meist abgesichert, der eine auf hohem, der andere auf niedrigem Niveau. Der verbliebene Kampf gilt der Selbstverwirklichung und wir führen ihn am Computer. In Festanstellung oder Frei. Im Büro oder im Pendelzug zwischen Hamburg und Berlin. Mit viel Emphase und – ganz wichtig – Spaß.

Illusion der Selbstverwirklichung

Das Internet hat uns die Illusion geschenkt, selbst verwirklicht arbeiten zu können und wir sind bereit, für diese Illusion alles andere unterzuordnen oder aufzugeben – Beziehung, Sex, Familie, Freundschaften, Kultur, Sport, Haustiere. Wir glauben, dass wir Fremdbestimmung und Entfremdung von der Arbeit mit Hilfe des Internets überwunden haben.

Unsere Prioritäten sind längst klar: Selbstverwirklichung und Anerkennung gibt es am ehesten im Job. Wir „familialisieren“ Arbeit, als Gegenmodell zur Entfremdung. Firma oder Auftraggeber, Chef und Arbeit sind der Ursprung immer währender Freude und Glückseligkeit. Nur nennen wir es nicht mehr ‚Arbeit‘ sondern Selbstverwirklichung. Alles andere hat sich dem unterzuordnen, denn schließlich stehen wir im Wettbewerb und da gewinnt nur der ausdauerndste Chefzustimmer oder der beste Arbeitssimulator.

Das mag zugegeben etwas negativ klingen, denn jeder kennt Phasen, Projekte oder Teams in denen die Illusion greifbar ist. Aber ähnlich wie die Interessen von Kindern fürs Singen, Zeichnen, Judo, Klavier ist die Zeit, in der man freien, ernsthaften Spaß daran hat sind endlich. Irgendwann ist Arbeit was es ist: Arbeit und zwar im protestantischen Sinne. Sie dient der Herstellung eines Produktes, welches wir am Ende selbst konsumieren oder verkaufen müssen. Und das Schlimme daran – wir müssen dem Käufer gefallen, irgendeinem Käufer. Ohne Gefallen keine Anerkennung.

Andreas Boes beschreibt die Entwicklung der Arbeitswelt in den letzten Jahren wie folgt:

In der Anfangsphase dieser Entwicklung seit Mitte der 1990er Jahre wurde immer wieder von einer zunehmenden Autonomie in der Arbeit berichtet, die neue Spielräume für kreatives Arbeiten und eine neue Form der Selbstverwirklichung in der Arbeit ermögliche. Kreativität und Innovativität sind auch weiterhin wichtige Aspekte. Aber Prozessorientierung, Standardisierung und ein neuer Typ der Industrialisierung erzeugen für die Mehrheit der Beschäftigten den Eindruck, Ideen wie vom Fließband liefern zu müssen.

(„Informatisierung der Gesellschaft und Zukunft der Arbeit“, Vortrag von PD Dr. Andreas Boes zum netzpolitischen Kongress der SPD Bundestagsfraktion)

Die Grundfesten der Leistungsgesellschaft stehen nach wie vor und das ist per se nichts Schlechtes. Es ist Leistung, die Gesellschaften voranbringt. Es ist Wettbewerb, der zur Leistung anspornt. Beides kann Fortschritt bringen. Es kann aber auch zerstören.

Was unterscheidet uns also von dem, was Charlie Chaplin in „Modern Times“ so trefflich karikiert hat? Was von der allein erziehenden, arbeitenden Mutter der 80er Jahre?

Die Antwort ist ebenso einfach, wie ernüchternd: abgesehen vom materiellen Wohlstand haben wir mehr gemein mit den Fabrikarbeitern des frühen letzten Jahrhunderts, als mit unserer eigenen Elterngeneration. Die Industrielle Revolution kannte keine Arbeitszeitregelungen, sie kannte keine Feiertage und keine Wochenenden. Wir kennen sie, aber wir halten sie für 80er Jahre Quatsch. Schließlich können wir selbst am Besten auf uns aufpassen. Wir wissen, wann wir überziehen und unsere Chefs und Auftraggeber vertrauen darauf, dass wir es wissen. Wissen wir es?

Corporate Digital Responsability

Unternehmer sind kein Altruisten. Niemand ist das. Arbeitszeitmodelle, die zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern vereinbart werden schaden den Unternehmen nicht. Ruhepausen, Wochenenden, Urlaub, Feiertage dienen der Regeneration der Arbeitskraft. Wenn Unternehmer wie Stephan Noller darüber nachdenken, ob E-Mail Ausbeutung sein kann, dann tun sie dies im eigenen Interesse und das ist gut so.

Aber sind überhaupt die Unternehmer das Hauptproblem? Oder sind wir es vielleicht selbst? Das, was Sven Dietrich in seinem Blog propagiert ist im Grunde ein alter Gewerkschaftsspruch – „Samstag gehört Papi mir“ – mit dem der DGB in den 60ern die Einführung der 5 Tage Woche (sic!) forderte.

Es klingt banal, aber die Verantwortung für unser Leben liegt zuerst bei uns. Das finden von Grenzen ist in einer digital entgrenzten Welt schwierig geworden und wir finden sie oft erst, wenn sie bereits überschritten sind. Aber von dieser Verantwortung erlöst uns niemand. Dazu gehört in erster Linie wieder mehr Entfremdung von Arbeit zu wagen. Die Dinge dahin zu sortieren, wo sie hingehören.

Wenn aus unternehmerischen Kalkül heraus diese Grenzen überschritten werden, dann gilt es den Unternehmern ihre Grenzen aufzuzeigen. Und ich hoffe, dass Gewerkschaften, Politik und Betriebsräte dies mit Augenmaß tun. Warum schreiben wir nicht einen „Corporate Digital Responsability Preis“ aus, der Unternehmer belohnt, die das Wohl ihrer Mitarbeiter im Blick haben. Ich weiß, es gibt sie. Ich weiß, es gibt viele davon.